Unsere Vizepräsidentin Eva Lichtenberger hat sich darüber Gedanken gemacht und plädiert dafür, die systemischen Schwächen in der EU, die durch die Pandemie sichtbar und spürbar geworden sind, unbedingt auf die Agenda der Konferenz zur Zukunft Europas zu nehmen:

Seit einem Jahr hören wir täglich die Nachrichten über den Fortgang der Covid-19-Pandemie. Die Europäer*innen sind gemeinsam mit der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert.

Die Europäische Union hat reagiert: Ein Aufbau- und Resilienzfonds wurde eingerichtet, der Solidaritätsfonds wurde erweitert, um einige Sofortmaßnahmen für die Krise zu unterstützen. Zu begrüßen war auch die Entscheidung der Europäischen Zentralbank, ein neues Pandemie-Notkaufprogramm einzurichten, um die Integrität der Eurozone zu schützen und Mitgliedstaaten zu unterstützen, die ihre Verschuldung zur Bewältigung der Krise erhöhen müssen. Auch die gezeigte Solidarität zwischen den europäischen Regionen, die einander bei der Versorgung schwerkranker Patient*innen geholfen haben, ist ein willkommenes Zeichen des europäischen Zusammenhalts.

Gleichzeitig hat die Pandemie deutlich gemacht, dass die Europäische Union keine ausreichende Zuständigkeit für die öffentliche Gesundheit hat, da sie im Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens nur über eine Unterstützungskompetenz verfügt. Die Europäischen Institutionen sind nicht mit den notwendigen Instrumenten ausgestattet, um eine wirksame Koordinierung für solche transnationalen Notfälle zu gewährleisten. Somit bleiben die Mitgliedstaaten für das Management ihres Gesundheitswesens sowie für die Bewältigung der Folgen der Epidemie zuständig, bekommen aber für die wirtschaftlichen Folgen finanzielle Unterstützung aus dem Wiederaufbau-Instrument NexGenerationEU.

Es überrascht nicht, dass das Krisenmanagement der nationalen Regierungen einmal mehr die Ineffektivität und die Grenzen des Intergouvernementalismus aufzeigt. In Ermangelung adäquater europäischer Instrumente sind die nationalen Regierungen teilweise damit überfordert, ihre Bürger*innen effektiv zu schützen. Und gleichzeitig kann die Europäische Union der in der EU-Charta verankerten Verpflichtung nicht nachkommen, allen EU-Bürger*innen und Menschen, die in der EU leben, ein hohes Maß an Gesundheitsschutz zu bieten. In einem Rückfall in rein nationalstaatliches Denken wurden Grenzen geschlossen und etablierte Strukturen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit massiv geschwächt.

Das sollte für uns Anlass sein, aus der Krise zu lernen. Angesichts der Konferenz für die Zukunft Europas sollten einige Reformen in diesem Bereich vorgeschlagen werden:

Die Grenzschließungen während der Pandemie haben den Binnenmarkt in Frage gestellt. Sie haben nicht dazu beitragen, das Virus zu stoppen, da die Ausbrüche eher regional als national waren. Auch das reibungslose Funktionieren von Dienstleistungen wie der Lebensmittelversorgung und der Gesundheitsfürsorge war gefährdet, ebenso die globalen Lieferketten für die in der Krise notwendigen Produkte. Um das in Zukunft zu verhindern, sollten EU-weit gültige Regeln für die von den Mitgliedstaaten anzuwendenden Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus erlassen werden. Jedenfalls sollte die Union mit stärkeren Kompetenzen im Bereich der öffentlichen Gesundheit betraut werden (geteilte Kompetenz zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten), um Grundregeln einer gemeinsamen Politik im Bereich der öffentlichen Gesundheit und Befugnisse zur Koordinierung der Reaktion auf künftige Epidemien und Pandemien zu entwickeln.

Die Wissenschaft hat in der Krise bewiesen, dass unter dem Druck der Pandemie die internationale Zusammenarbeit stark intensiviert wurde – auch mit respektablen Ergebnissen. Diese Kooperation brauchen wir für unsere Zukunft, deshalb sollte ein europäisches Forschungskonsortium gebildet werden, das Europa unabhängiger von internationalen, schwer zu beeinflussenden, Strukturen macht. Die Zuweisung von EU-Mitteln für verschiedene Forschungsprojekte ist ein willkommener erster Schritt.

Für den Weg aus der Krise werden koordinierte fiskalische Maßnahmen notwendig sein – ein Steuerwettbewerb zwischen Nationalstaaten ist für die gemeinsame Zukunft in Europa kontraproduktiv. Das gilt auch für die Finanzierung effizienter europäischer Politiken – vor allem für die Forschungs-, Industrie- und Umweltpolitik. Dazu muss die Europäische Union mit Eigenmitteln ausgestattet werden, um den unwürdigen Kuhhandel zwischen Rat und Parlament bei den Budgetbeschlüssen zu einem guten Ende zu bringen.

Die geplante Konferenz über die Zukunft Europas muss dies alles zum Thema machen, darf sich aber nicht nur in Diskussionen und Vorschlägen erschöpfen. Das Ziel muss sein, in einem Europäischen Konvent einen neuen Verfassungspakt zu entwerfen, der Antworten auf aktuelle und zukünftige europäische Herausforderungen gibt. Dabei müssen die Inputs aus der Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle spielen.

Wir müssen anerkennen, dass die Welt nach COVID-19 nicht mehr dieselbe sein wird wie vorher. Die Europäer*innen müssen eine echte ökosoziale Marktwirtschaft anstreben, die unsere Gesellschaft resilienter macht, indem sie die Verbindung zwischen Umwelt und Wirtschaftswachstum stärkt. Dabei muss auch die Umsetzung der sozialen Säule der EU eine zentrale Rolle erhalten. Die Bedeutung, die eine nachhaltige Wirtschaftsform bei künftigen Krisen (Klimaerhitzung) hat, darf nicht unterschätzt werden.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten stehen vor einer entscheidenden Bewährungsprobe in Sachen Effektivität und Solidarität, die das Bild der Bürger*innen von unserer Union für lange Zeit prägen wird. Einige Herausforderungen, mit denen wir heute konfrontiert sind, können – wie diese Krise uns gezeigt hat – weder auf lokaler noch auf regionaler oder nationaler Ebene bewältigt werden. Sie erfordern eine europäische Antwort, die dem Prinzip der Subsidiarität folgt. Der Föderalismus ist das einzige institutionelle System, das sowohl Subsidiarität als auch Stellvertretung bieten kann und deutlich macht, dass die Europäische Union eine Solidargemeinschaft mit einem gemeinsamen Schicksal ist.

(Dieser Artikel basiert auf einem Text der Union Europäischer Föderalisten)